Newsletter Mai 2019

Armut und ihre Folgen

Tausende honduranische Kinder leben in extremer Armut. Gemäss Angaben der Weltbank ist Honduras nach Südafrika und Haiti das ärmste Land der Welt. Konkret heisst das, dass 17,2 % der Honduraner mit weniger als US$ 1.90 und 52,6 % mit weniger als US$ 5.50 pro Tag auskommen müssen.

Siehe Diagramm Einkommen der Honduraner

Rund um San Pedro Sula hat sich in den letzten Jahren ein Phänomen zunehmend verschärft: die Umsiedlung aus den ruralen Gebieten in die Slums der Grossstadt. Aufgrund von längeren Trockenperioden fallen Ernteerträge aus und viele Kleinbauern sind gezwungen ihre Heimat zu verlassen. Sie suchen Zuflucht in flussnahen Gebieten am Stadtrand und hoffen auf Arbeit in einer der vielzähligen Kleider- und sonstige Industriefabriken. Gemäss Zahlen der CASM (Comisión de Acción Social Menonita) hat sich in den letzten zehn Jahren die Zahl an Familien – durchschnittlich fünfköpfig –, welche in den Slums rund um San Pedro Sula lebt, mehr als vervierfacht.

Mehr als 95% der in den Slums lebenden Menschen verfügen über keinen Primarschulabschluss (bis zur Vollendung des 6. Schuljahres) und die Analphabetismus-Rate liegt bei 17%.

Sie Diagramm Familien in den Slums von San Pedro Sula

Nebst den naheliegendsten Folgen der Armut, wie fehlendem Zugang zu Gesundheit, Bildung und Ernährung werden monatlich hunderte von Mädchen und Knaben Opfer von sexuellen Übergriffen. Die grosse Mehrheit der sexuellen Übergriffe (über 90 %) finden in extrem ärmlichen Behausungen statt, welche aus Holzbrettern und Werbeschilder erbaut werden und wo in einem Einzelbett fünf oder mehr Personen schlafen. In diesen Hütten kommt es immer wieder vor, dass ein Mädchen vom Stiefvater oder einem anderen Mann mit der Zustimmung der Mutter sexuell missbraucht wird, weil diese dafür Geld, Lebensmittel oder Gegenstände erhält, die sie sonst nicht kaufen könnte (beispielsweise Kochherd, Pfannen, Gaszylinder).

Diese unmenschliche und illegale Praxis wird von der Familie in einer Welt, in der der Alltag vom Kampf ums Überleben gezeichnet ist, weitgehend akzeptiert, weshalb oft auch keine Anklagen aus den Misshandlungen hervorgehen.

Nach Angaben des Observatoriums von Gewalt der nationalen Universität von Honduras (UNAH) fielen im letzten Jahrzehnt mehr als 17’000 Mädchen unter 18 Jahren sexuellem Missbrauch zum Opfer. Feministische Organisationen schätzen, dass die realistische Zahl gar über 50’000 liegt.

Im Kinderheim «Yo Quiero Ser…» haben wir Kinder aufgenommen und unterstützt, die aus Familien stammen, denen genau dieses Schicksal in der Peripherie von San Pedro Sula widerfahren ist. Hier folgt die Geschichte einer 13-jährigen, welche im November 2018 mit ihrer 3-jährigen Nichte zu uns gestossen ist.

Das Mädchen war, genau wie ihre Schwestern, Jahre lang den Misshandlungen und sexuellen Übergriffen seines Stiefvaters ausgesetzt. Die Mutter tolerierte aus oben genannten Gründen die Handlungen und aus den Übergriffen auf die Schwestern ging ein Kind hervor, welches 2015 gesund geboren wurde. Nach einem Hinweis aus dem Umfeld der Familie wurde der Stiefvater angezeigt und verhaftet. Die 13-jährige trug jedoch irreversible psychische Schäden davon, welche sich in aggressivem Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen, Gefährdung ihrer selbst und veränderten sexuellen Verhaltensweisen äusserten. Aufgrund des kaum haltbaren Verhaltens des Mädchens ersuchte die DINAF (Dirección de Niñez, Adolescencia y Familia) Hilfe beim «Yo Quiero Ser...».  Trotz professioneller Betreuung durch Psychiater und Einsatz von Medikamenten, konnte sich das Mädchen nicht in die Gruppe des Kinderheims einfügen. Es wiederholten sich Auseinandersetzungen, Gewalt- und sexuelle Übergriffe, weshalb sie zum Schutz der anderen Kinder das Heim im Juni 2019 wieder verlassen musste.

Die beste Option für das Mädchen wäre ein stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik gewesen. In Honduras gibt es drei öffentliche psychiatrische Tageskliniken, in denen Erwachsene und Kinder behandelt werden. Es gibt jedoch kein Zentrum, in welchem sexuell missbrauchte Kinder untergebracht werden könnten und so musste eine andere Lösung gefunden werden.

Gemäss der DINAF war es nicht möglich, die mittlerweile 14-jährige zurück in ihr häusliches Umfeld zu schicken. Die Ressourcen reichten einfach nicht dazu aus, die Mutter und die sieben Kinder inklusive 2 Grosskinder zu versorgen. Glücklicherweise hat die Stiftung «Yo Quiero Ser...» in solchen Situationen Möglichkeiten, Familien punktuell zu unterstützen. So wurde für die Familie eine Pick-up-Ladung mit drei Betten, Kleider, Hygieneartikeln, Kochutensilien und Esswaren bereitgestellt. Die Familie erhält zudem monatlich eine Lieferung mit Grundnahrungsmitteln, Hygieneartikel und anderen überlebenswichtige Gegenstände damit sie sich weiterhin versorgen kann.

Aufgrund der noch immer laufenden Untersuchungen gegen den Stiefvater kann die kleine Nichte nicht zurück zur Familie und lebt deshalb seither gut integriert im Kinderheim «Yo Quier Ser...». Die 14-jährige ist weiterhin in ambulanter psychiatrischer Behandlung und besucht ihre Nichte gemeinsam mit der Familie mehr oder weniger regelmässig.

Eine äusserst traurige Tatsache aus der tragischen Geschichte ist, dass der Stiefvater höchstwahrscheinlich mangels Beweislage freigesprochen werden wird. Denn eine der Schwestern des Mädchens, welche auch Opfer seiner Misshandlungen und Übergriffen war, sagte aus, dass sie mit den Handlungen einverstanden gewesen sei und es sich somit um keinen sexuellen Übergriff handle. Genauso scheint es in einer grossen Mehrzahl der Missbrauchsfälle zu verlaufen und die vermeintliche Gerechtigkeit bleibt aussen vor.

Laut feministischen Organisationen bleiben die meisten Misshandlungen Minderjähriger straflos. In den wenigen Fällen, die vor Gericht gebracht werden, werden gerade einmal 50 % der Angeklagten verurteilt. Die Ursachen dafür sind einerseits, dass die Eltern zum Schutz der Angehörigen keine Klage einreichen und andererseits, dass der Staat nicht über eine spezialisierte Abteilung für die Bearbeitung solcher Straftaten verfügt.

Die zunehmende soziale Instabilität des Landes begünstigt die fortschreitende Armut und die damit einhergehenden Straftaten gegen Minderjährige. Aus diesen Gründen ist es unerlässlich so vielen Kindern und Jugendlichen wie möglich ein solches Schicksal zu ersparen und sie aus der Abwärtsspirale der Armut zu holen indem sie sich mittels Bildung ein würdiges Leben aufbauen können.